[Prozessbericht] Gewalt ist am Hamburger Gitter zu rütteln

Prozessbericht zum Verfahren gegen Karsten / „no way“ antifaschistischer Protest gegen NPD-Aufmarsch am 1. Mai 2015

Zur Mittagszeit des 16. Augusts 2016 vor dem Erfurter Amtsgericht treffen Antifaschist*innen auf ein kleines Polizei-Empfangskomitee, um Karsten im stattfindenden Prozess zu unterstützen und den Verlauf zu begleiten. Vorgeworfen wird dem Antifaschisten Widerstand in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung. Verurteilt wird er wegen Widerstand zu 1500 Euro Geldstrafe.

I. Kontext und Tatvorwurf: Damals…

Während viele Antifaschist*innen am 1. Mai letzten Jahres in Saalfeld gegen den Aufzug des Dritten Weges protestieren und in Weimar eine DGB-Kundgebung von Nazis angegriffen wird, gehen zahlreiche Antifaschist*innen in Erfurt auf die Straße, um der rassistischen Hetze der NPD-Anhänger*innen zu widersprechen. Zu Protesten rufen „no way“ und „Es geht auch ganz anders“ auf.

Im Bereich Leipziger Platz Stauffenbergallee kann eine Sitzblockade den NPD-Aufzug verzögern. Räumlich durch zwei Reihen Hamburger Gitter von dieser Aktion getrennt finden sich einige Antifaschist*innen zusammen. Karsten soll sich mit einem weiteren Antifaschisten abgesprochen daran gemacht haben, ein Gitter aus seiner Verankerung zu lösen, um die Blockade zu unterstützen. Dabei soll eine Polizeibeamtin am Fuß verletzt worden sein. Unterdessen werden die Sitzenden durch Beamte von der Straße geräumt und die Rassist*innen laufen weiter.

II. Die Verhandlung: „Wir sind das Volk!“

Vor dem Eintreten in den Sitzungssaal müssen sich Karstens Unterstützer*innen zwei Kontrollen unterziehen. Die vorsitzende Richterin Schwarz hat dazu eine Anweisung gegeben: Durchsuchung, abtasten, alles abgeben auch Personendaten, die vermerkt werden.

Die Verhandlung beginnt, der Tatvorwurf wird gehört, Karsten macht keine Aussage. Das von der Polizei zugeschnittene vermeintliche „Beweis-“Video wird vorgeführt, die Unterstützenden hören Tröten, Alerta Antifascista-Rufe und „Wir sind das Volk“. Geladen sind zwei Polizeibeamte. Die verletzte Jessica Bürger als auch ihr Kollege, Martin Höppner, gehören zu einem BFE-Trupp der Bereitschaftspolizei Erfurt. Die Verletzte wird zuerst gehört und befragt. Sie führt aus, wie es zum blauen Fleck auf dem Spann ihres Fußes gekommen sein muss. Aufgrund des Adrenalins im Einsatz sei der Schmerz erst am Abend nach Dienstschluss zu verspüren gewesen. In Absprache mit ihrem Vorgesetzten, Peter Koch, fertigt sie ein paar Tage später die Anzeige, zuvor ist sie noch an zwei Großeinsätzen – Hogesa am 2. Mai in Erfurt und Gefahren(fußball)spiel in Jena am 3. Mai – beteiligt.

Karstens Verteidigerin, Kristin Pietrzyk, setzt an mehreren Punkten an, um die Vorwürfe zu entkräften. Im zurecht geschnittenen Video der Polizei sind nur Ausschnitte des Geschehens zu sehen, was vor und nach den Sequenzen passiert, ist nicht festzustellen. Jedoch ist erkennbar, dass u.a. Polizeibeamte am besagten Gitter wirken, sodass nicht auszuschließen ist, dass sie das Gitter anheben, ihrer Kollegin auf den Fuß stellen und sie damit verletzen. Auf Nachfrage bestätigt das auch Zeuge Höppner. Weiterhin wird herausgearbeitet, dass die Beamtin nicht die vollständige Schutzbekleidung getragen und sich selbst nicht vorschriftsmäßig am Gitter bewegt hat, sodass sie sich selbst in Verletzungsgefahr gebracht haben kann. Richterin Schwarz würgt diese Argumentation ab. Es kommt zu einem Wortgefecht zwischen Verteidigerin und Richterin, in dem zweitere keinen Zweifel daran lässt, den Angeklagten zu verurteilen. Dabei scheint sie sich durch den rechtsstaatlich zugesicherten Instanzenzug bedroht zu fühlen als die Verteidigerin darauf hinweist, dass das Landgericht Erfurt in Berufungsverhandlungen schon Urteile des Amtsgerichtes aufgehoben habe.

Nach einer Unterbrechung gibt die Verteidigung Beweisanträge zu Protokoll, worauf gegenseitige Stellungnahmen abgegeben werden. Ein weiterer Verhandlungstag scheint notwendig. Die Tatsache, dass in einer Antwort des Thüringer Innenministeriums auf eine Anfrage zu verletzten Beamten auch am 1. Mai 2015 keine verletzte Polizistin auftaucht, bleibt eine unbeachtete Kuriosität. Schließlich schlägt Richterin Schwarz vor, die fahrlässige Körperverletzung einzustellen. Herr Bennert als Vertreter der Staatsanwaltschaft Erfurt willigt nach einigen Unmutsäußerungen doch ein, auch die Verteidigung stimmt zu.

III. Das Urteil oder „Die Predigt“

Wohl um dem nun beschränkten Tatvorwurf Geltung zu verschaffen, fordert Staatsanwalt Bennert 100 Tagessätze zu 30 Euro als Strafe für den übriggebliebenen Widerstand. Damit geht er über die im Strafbefehl bezeichnete Geldstrafe hinaus und fordert eine Vorstrafe für Karsten. Verteidigerin Pietrzyk entgegnet mit ihrem Plädoyer für einen Freispruch.

Richterin Schwarz verkündet daraufhin in kurzem zeitlichen Abstand ihr Urteil: 50 Tagessätze zu 30 Euro wegen Widerstands. Ihre Begründung trieft von moralischen Vorhalten und „persönlichen“ Worten. Ein Unterstützer verlässt den Saal als Schwarz die Polizeibeamt*innen als wesentliche Leidtragende der politischen Auseinandersetzung und die vielen eskalierenden Situationen beklagt, welche Leute davon abhalten würden, gegen „die Braunen“ auf die Straße zu gehen. Wir lernen also, Gewalt ist, wenn Gegendemonstrierende am Gitter rütteln. Diese Eskalationen machen Polizeibeamte zum „Freiwild der Nation“.
Eine Runde bemitleidendes „Ohhhr“ für die Bullen und Repressionsbehörden, wir rütteln weiter – nicht nur am Gitter!

Solidarität ist eine Waffe!

Spendet, um die Kosten gemeinsam zu tilgen!