Auch der letzte Prozess nach den Geschehnisse am 17.08.2013 in der Trommsdorffstraße (PM, 5. Juni 2014) verläuft nicht ohne Absurditäten. Der Vorwurf wird gegen Auflagen eingestellt. Damit enden zwei Verfahren gegen Protestierende mit einer Einstellung. Die Anschuldigungen sind nicht eindeutig belegbar. Lest im Folgenden den Bericht zum Prozess gegen Stefan, der am 2. September 2015 stattfand und seid in froher Erwartung über ein Fazit nach zwei Jahren Soliarbeit, das in Ausgabe 10 der Lirabelle erscheint und dann auch hier nachlesbar sein wird.
Wie bei den vorangegangenen Prozessen muss die interessierte Öffentlichkeit, etwa 25 solidarische Unterstützer*innen, auch am 2. September, aufgrund der von Richter Thomas Hauzel erlassenen sitzungspolizeilichen Verfügung, Taschendurchsuchungen und Personenkontrollen über sich ergehen lassen. Bereits auf dem Platz vor dem Amtsgericht Erfurt wurden die Unterstützer*innen von mehreren Polizeifahrzeugen plus Besatzung „willkommen geheißen“. In Erfurt scheint durch uns eine erhöhte Gefahr für wen auch immer vermutet zu werden.
Um 9.00 Uhr werden die Türen des Sitzungssaals 18 geschlossen, obwohl noch einige Menschen darauf warten,hereingelassen zu werden. Das Abtasten, Anfassen und Abgeben als gefährlich eingestufter Gegenstände (bspw. Trinkflaschen, Schlüssel) haben diese noch nicht hinter sich. Auf Nachfrage aus dem Zuschauer*innenraum, ob Hauzel so die Öffentlichkeit empfange, in dem er Menschen an die Wand stellen lässt, antwortet dieser gut gelaunt mit „Ja!“. Der Richter und einige im Sitzungssaal Anwesende sind sich bereits wohl bekannt. Hauzel saß bereits dem Prozess gegen Sebastian vor. Auf ihn ist Verlass, der verordnet, dass nicht mal Getränke mit in den Sitzungssaal dürfen, und seine obligatorische weiße Fliege, die er bisher immer getragen hat, ist ebenfalls mit dabei. Auch wir sind wieder da, um zu unterstützen und zu dokumentieren.
Heute steht Stefan vor Gericht – der Vorwurf lautet ‚Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte‘. Die Anklageschrift hält ihm vor, dass er „sich mit großer Kraftanstrengung“ gegen die Polizisten gewehrt habe, weshalb es zu zwei Stürzen mit den beteiligten Beamten gekommen sei. Die drei geladenen Bullenzeugen, Christian Müller (28 Jahre, Bereitschaftspolizei EF), Martin Dimitrovici (32 J., Bereitschaftspolizei EF, jetzt Bildungszentrum der Bullen in Meiningen) und Sebastian Michel (30 J., jetzt Polizeiinspektion Sonneberg), werden nacheinander in den Zeugenstand gerufen, um zu erläutern, was sich bei der Kundgebung der NPD-Gegner*innen vor nunmehr zwei Jahren zutrug.
Müller sagt zuerst aus. Er geht auf die Situation ein, dass zwischen den beiden Kundgebungen nur eine Polizeireihe stand, welche die Aufgabe hatte, die Veranstaltungen voneinander zu trennen. Gemeinsam mit seiner Einheit steht er im Rücken des Gegenprotests und sieht, wie die Gegendemonstrant*innen gegen die Polizeikette schieben. Er uns dein Trupp entscheiden sich, nach vorn zu gehen und sich dazwischen zu „mischen“, um die Lage zu „entspannen“. Sie gehen nun mit fortgeschrittenem Tempo in Richtung der schiebenden Gegendemonstrant*innen. Müller dreht sich zufällig nochmal um und sieht Stefan mit erhobenen Händen auf den Kollegen Schulz zurennen. Er deutet dies als Angriff bzw. Absicht diesen zu verletzen. Um das zu verhindern, bekommt Stefan von Müller einen Stoß gegen die Brust und wird daraufhin festgehalten. Auf Nachfrage wird klar, dass ein Körperkontakt nicht stattgefunden hat. Jedoch folgt aus dieser Interpretation des Müller, dass Stefan – aufgrund des Versuchs einer Körperverletzung – „mitgenommen“ also verbracht wird, um seine Identität feststellen zu können. Der Kollege Dimitrovici kommt Müller zu Hilfe, weil sich Stefan gewehrt und versucht haben soll, sich zu befreien. Müller berichtet von Befreiungsversuchen durch andere Personen, unter anderem im Zusammenhang mit Robert (PM, 12. Juni 2014). Aufgrund Stefans Widerstand seien die Polizisten mit ihm zu Boden gegangen. Auf die Frage, wie viele Polizisten denn Stefan festgehalten haben, war die Erinnerung nur vage – zwei mindestens, vielleicht auch drei oder vier. Am Ende der Straße wurde dann eine Identitätsfeststellung durchgeführt. Bis dorthin wurde Stefan an die 100 Meter über die Straße gezerrt.
Verteidigerin Kristin Pietrzyk kritisiert, dass der Betroffene nicht an Ort und Stelle von der Polizei angesprochen wurde – die formlose Ansprache und Aufklärung über eine einzuleitenden polizeiliche Maßnahme sei unumgänglich für die Rechtmäßigkeit dieser. Sie fragt Müller außerdem, wie die Verletzungen des Betroffenen (beidseitig über der Augenpartie) zustande gekommen seien. Müller antwortet, dass er nicht wisse, ob die Verletzungen nicht schon vorher da gewesen seien. Den Sturz schiebt Müller auf die Befreiungsversuche durch andere Gegendemonstranten, obwohl er zuvor äusserte, dass der Betroffene selbst die Stürze herbeigeführt habe. Pietrzyk macht abermals deutlich, dass ihr Mandant nicht über die polizeiliche Maßnahme informiert wurde. Personen müssten mittels eine Belehrung in die Lage versetzt werden, zu wissen, was mit ihnen geschieht. Das Unterlassen führe dazu, dass die nachfolgende polizeiliche Handeln nicht rechtmäßig ist. Sie verweist auf den Paragrafen 113 Strafgesetzbuches und dessen Auslegung durch das Oberlandesgericht Hamm, das feststellte, dass eine formlose Ansprache erfolgen müsse.
Zeuge Nummer zwei, Dimitrovici, schildert ebenfalls eine unübersichtliche Situation und die Herausforderung der räumlichen Trennung der beiden Veranstaltungen und ihrer Teilnehmer*innen. Weiter führt er aus, dass der Betroffene ihm aufgefallen sei, weil er zu denen gehörte, die aktiv nach vorn auf die Polizeikette Druck aufgebaut hätten. Stefan befindet sich also in dieser Variante des Geschehens vorn in der Gegenkundgebung. Ob Schulz gestoßen wurde, könne er nicht sagen. Er habe gesehen, dass Müller den Betroffenen festhielt und will ihn unterstützen. Auf die richterliche Nachfrage, ob er den Betroffenen angesprochen habe, bejaht er mit „Stell dich auf die Beine!“. Auf die Nachfrage, ob dem Betroffenen mitgeteilt wurde, warum er festgehalten wird, entgegnet Dimitrovici, dass das aufgrund der Lautstärke unmöglich gewesen sei. Er meint sich zu erinnern, dass bis zu vier Polizisten Stefan festhielten. Die Verletzungen von Stefan seien durch dessen fehlende Mitwirkung bei der Verbringung zustande gekommen, sodass er teilweise über den Asphalt gezogen werden musste. Dimitrovici muss sich vielen Fragen stellen und antwortet zunehmend pampiger, doch Richter Hauzel beschwichtigt: „Wir wollen ja nix Böses.“ Schließlich versammelt Hauzel Staatsanwältin, Verteidigerin, Zeugen und Betroffenen um sich, damit Zeuge Dimitrovici ein Lagebild vom Geschehen skizzieren kann. Doch so richtig klar ist danach auch nicht, wie Stefan sowohl vorn Schieben und von hinten auf die Gegenkundgebung zurennen kann. Viel zur Sache tut dies nicht, der dritte und letzte Zeuge wird aufgerufen.
Michel betritt den Saal, mittlerweile tut er seinen Polizeidienst in Sonneberg. Am 17. August 2013 habe er mit seiner Handkamera Videoaufnahmen im Rücken der Protestkundgebung gemacht. Die Aufnahmen können jedoch nicht angeschaut werden, weil die DVD kaputt ist und zu den Originalkassetten kein passendes Abspielgerät zur Verfügung steht – dafür wird vor Ort keine Lösung gefunden, es geht ohne die Aufnahmen weiter. Michel beschreibt Stefan als aggressiv, er wäre an vorderster Frontgewesen und habe bedrohlich den Zeigefinger erhoben, sich eingehakt und geschoben. Er habe aufgenommen, wie seine Kollegen von hinten in die Gegenkundgebung reinrannten, um das Ganze zu „lockern“. Außerdem habe er gesehen, wie Stefan mit den Polizisten zu Fall kam, kurz darauf habe er aber mit seiner Handkamera auf andere Szenarien abgeschwenkt, sodass sein Bericht hier abbricht. Ob es einen Stoß gegen Schulz tatsächlich gegeben habe, konnte er dem Videomaterial bei dessen Sichtung direkt nach dem Polizeieinsatz nicht entnehmen. Er selbst habe diese Szene nicht gefilmt.
Nachdem alle Zeugen gehört waren, machte die Verteidigerin nochmals stark, dass die Polizei vor Beginn einer Maßnahme die betreffende Person darüber informieren müsse. Es wird hin und her diskutiert, ob und wann die Information von der Polizei gegeben werden müsse. Auf der Kundgebung selbst sei dies aus verschiedenen Umständen heraus unmöglich gewesen. Die Verfahrensbeteiligten einigen sich schließlich auf eine Einstellung nach § 153a StPO. Gegen Auflage von 50 Arbeitsstunden wird das Verfahren eingestellt.
Ungeklärt bleibt, wie in Bezug auf Stefan drei verschiedene Positionsbestimmungen gegeben werden konnten. Offen ist auch, wie es eine Person schaffen kann, vier Polizisten in Vollmontur umzuwerfen. Mit diesen und weiteren Fragen verabschiedet sich die Soligruppe 1708 und freut sich weiterhin über Spenden, um die Kosten der Verteidigung stemmen zu können.