[Prozessbericht] Auf der Suche nach dem objektiven Dritten, 10. Juni, AG Erfurt


Kundgebung vorm Landgericht Erfurt (1)


Kundgebung vorm Landgericht (2)

Am 10. Juni 2015 kam es vor dem Erfurter Amtsgericht zur Verhandlung gegen Igor. Als Versammlungsleiter einer Solidaritätskundgebung ist er für ein Transparent verantwortlich, auf dem zu lesen war „AUCH POLIZIST_INNEN SIND RASSIST_INNEN“. Igor verfasste im Vorfeld eine Erklärung und einen Aufruf zur Prozessbegleitung, dem nahezu 20 Unterstützer*innen gefolgt sind.

Wie so oft in letzter Zeit mussten diese sich aufgrund einer sitzungspolizeilichen Verfügung einer intensiven Personen- und Taschenkontrolle unterziehen. Rätselhaft blieb das Prinzip, nach welchem Gegenstände, die mensch bei sich trug, entzogen wurden: Einige behielten ihr Feuerzeug, andere mussten es abgeben; auch Schlüssel wurden einigen abgenommen oder Getränkeflaschen. Einige durften ihre Flaschen mit reinnehmen, nachdem sie vor den Augen der kontrollierenden Polizist*innen einen Schluck davon tranken. Eine unangenehm intensive Leibesvisitation mit gründlichem Abtasten von oben nach unten bis in die Unterwäsche mussten alle durchlaufen, einige gar die Schuhe ausziehen. Die Kontrollen verhinderten, dass der Betroffene pünktlich im Sitzungssaal erschien, was Richter Hauzel ein wenig nervös machte. Igor durfte seinen Laptop nicht mit in den Saal nehmen, um die vorbereitete Stellungnahme zu verlesen.

Richter Hauzel eröffnete die Sitzung 13.20 Uhr bei geöffneter Tür, während einige Unterstützer*innen noch kontrolliert wurden und erst nach und nach Platz nehmen konnten. Währenddessen erging die Belehrung durch Hauzel, dass sie hier zuhören dürften, aber nicht durch Äußerungen oder Kommentierungen zu stören haben. Andernfalls werden sie des Sitzungssaals verwiesen. Das Prozedere beginnt mit der Personalienfeststellung des Betroffenen und dem Verlesen der Strafsache durch Staatsanwältin Thiel: Die Polizeibeamt*innen Rau und Koch fühlten sich an der Ehre verletzt durch das am 24.10.2014 bei einer Kundgebung vor dem Gericht aufgehängten Transparent „AUCH POLIZIST_INNEN SIND RASSIST_INNEN“.

Igor hatte sich vorbereitet, eine politische Stellungnahmen abzugeben, um den Kontext zu beleuchten. Dafür hatte er Zeitungsartikel und andere Berichte vorliegen. Doch bevor er damit beginnen konnte, wies er darauf hin, dass er sich unwohl fühle, wenn Bewaffnete im Raum seien. Richter Hauzel entgegnete, dass er dies so zugelassen habe und Staatsanwältin Thiel meinte, dass wir schließlich nicht hier seien, um uns wohlzufühlen. Staatsanwältin und Richter waren sich einig, dass das Einräumen der Möglichkeit, sich zu äußern darauf beschränkt sei, den Sachverhalt des Tatvorwurfs zu klären. Hier gehe es lediglich um einen rechtlichen Sachverhalt, ob die Aussage des Transparents strafbar sei oder eben nicht. Dies ist daran festzumachen, ob ein objektiver Dritter die Aussage als Beleidigung versteht.

Der Betroffene kommt nun endlich dazu, sich, wie erlaubt, fallbezogen zu äußern. Es sei seine Pflicht, den Kontext herzustellen. Seit Zeigen des Transparents kamen mehr und mehr rassistische Verstöße von Polizist*innen im Dienst an die Öffentlichkeit. Ausführlich berichtet Igor von einem Fall in Hannover. Ein Polizist hatte dort einen Geflüchteten gefoltert, misshandelt und erniedrigt. In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung wird beschrieben, dass dies ein systemisch bedingtes rassistisches Verhalten von Polizist*innen im Dienst darstelle – die Ausnahme bestehe einzig darin, dass diese Fälle überhaupt bekannt würden. Was System hat, ist, dass die rassistischen Übergriffe der Polizei verdeckt bleiben – ja gar verdeckt werden, in dem sich Kolleg*innen im eingebläuten Korpsgeist gegenseitig decken. Richter Hauzel ist sehr gewandt im aktiven Zuhören, sagt immer ja und nickt interessiert mit dem Kopf. Staatsanwältin Thiel dagegen blättert in ihren Unterlagen. Schließlich fragt Richter Hauzel nach einer Kopie des Zeitungsartikels, den Igor gern an Staatsanwältin und Richter verteilt. Weiter berichtet Igor aus dem aktuellen Thüringenmonitor, der die Einstellungen der Thüringer Bevölkerung in einer repräsentativen Befragung erhebt. Dabei bilden sich rassistische, antimuslimische und antiziganistische Einstellungen in hohen Prozentzahlen ab, was somit auch auf die Teilgruppe der Polizeibeamt*innen zuträfe. Um auf die öffentliche Debatte um „Racial Profiling“-Methoden der deutschen Polizei hinzuweisen, führt Igor ein Schreiben des UN-Komitees zur Bekämpfung rassistischer Diskriminierung an, welches darlegt, dass Paragraf 22 des Bundespolizeigesetzes rassistische Kontrollen ermögliche. Dieser Einschätzung folgend wird eine Präzisierung oder Tilgung des Paragrafen gefordert.

Nun ruft der Richter die Staatsanwältin, die Verteidigerin Pietrzyk und den Betroffenen nach vorn, um ein Bild der Kundgebung vom 24.10.2014 zu zeigen. „Sehe ich das richtig: Neben dem Transparent „AUCH POLIZIST_INNEN SIND RASSIST_INNEN“ hängt ein weiteres „Stoppt rassistische Polizeikontrollen“, fragt der Richter. Ja, ist ja ein Foto, auf dem das alle erkennen können.

Weiter geht’s mit einer Befragung zum Tag des Geschehens. Zur Kundgebung war Polizei vor Ort in Person des Einsatzleiters Rau, dessen Kollegin Koch und Kollege Bückert, der die Fotos gemacht hat. Der Kontakt zwischen Kundgebungsleiter Igor und Einsatzleiter Rau war dabei stets höflich.

Richter Hauzel stellt wiederholt gerichtet an Igor die Frage, ob Polizist*innen Rassist*innen seien. Ja, so Igor, wie es der Thüringenmonitor eben abbilde. Für einige Lacher sorgten Hinweise des Angeklagten, dass Polizist*innen jedoch lernfähig seien und sich durch reflexive Annäherung mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen können. Prinzipiell seien alle Rassist*innen, die in einer weißen Mehrheitsgesellschaft sozialisiert werden und sich als Weiße nur freiwillig mit Rassismus auseinandersetzen müssen.

Nun werden die Zeug*innen aufgerufen. Zuerst Rau, der an diesem Tag für drei Dinge zuständig war: den Thüringer Anwaltstag, die Verhandlung gegen B und die aus Solidarität dazu stattfindende Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude. Nach Raus Einschätzung herrschte grundsätzlich eine rege Betriebsamkeit rund um das Gericht. Viele Passant*innen hätten auf die „Inszenierung“ (gemeint ist die Kundgebung) mit Kopfschütteln reagiert und hätten die Beamt*innen gebeten diese zu beenden. Weil an diesem Tag so viele Menschen das Transparent sehen konnten, wollte Rau dagegen vorgehen. Er empfand es als beleidigend und ehrverletzend, weshalb er den Betroffenen bat, das Transparent abzunehmen. Dies ist nicht geschehen, weshalb er im Nachgang seine Kollegin Koch dazu anhielt, die Anzeige zu erstatten. Er führte dazu aus, dass er auch mit Gewalt hätte vorgehen können, um das Transparent zu entfernen. Igors Interesse war geweckt und er fragte den Beamten, warum nicht er die Anzeige gestellt habe, worauf Rau entgegnete, dass es formal egal sei, denn es gehe schließlich um die Geschädigten, zu denen auch er gehöre. Er akzeptiere es nicht, dass an dem Tag, als er seine rechtmäßige Arbeit gemacht habe, so bezeichnet zu werden. Über das Gefühl der Beleidigung plauderte Rau auch am Tag der Kundgebung mit einem Teilnehmer – ein entspanntes und angenehmes Philosophieren. Er fühle sich beleidigt, weil Menschen über ihn urteilen, ohne ihn zu kennen. Anschließend wird Beamtin Koch in den Sitzungssaal gebeten, die jedoch wenig neue Informationen liefert, außer dass sie anders als ihr Kollege der Meinung ist, dass sie die Anzeige eigeninitiativ gestellt habe.

Ca. 14.45 Uhr verliest Staatsanwältin Thiel ihr Plädoyer. Sie bleibt bei der bereits im Strafbefehl angesetzten Strafe von 20 Tagessätzen zu 15 Euro, denn schließlich stelle der Sachverhalt eine Diffamierung der Polizei und eines rechtmäßigen Polizeieinsatzes dar. Einige Unterstützer*innen konnten sich noch gut daran erinnern, was sich damals vor dem Sitzungssaal abspielte: rassistische Polizeikontrollen – in Deutschland entspricht das folglich rechtmäßigem Polizeihandeln.
Die Verteidigerin hält dagegen, sie fordert Freispruch. Es gäbe wohl keine Berufsgruppe, die sich von einer Auseinandersetzung mit Rassismus scheuen könne – alle setzen sich zu wenig damit auseinander. Das AUCH mache deutlich, dass keine Berufsgruppe auszunehmen ist und nicht nur die Polizei gemeint sei. – Ganze Bundestagsausschüsse setzen sich damit auseinander. Im Abschlussbericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses steht, dass die polizeilichen Ermittlungen durch rassistische Zuschreibungen geprägt seien und auch wenn keine Thüringer Polizist*innen daran beteiligt waren, so gibt es auch für diese keine Entwarnung (Link: besonders S.1781). Den Unterschied zwischen einem AUCH und dieser Feststellung könne sie nicht erkennen. In dieser Verhandlung stehen sich grundsätzlich das Grundrecht auf Meinungsfreiheit und der Strafrechts-Paragraf zu Beleidigung gegenüber. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem ähnlichen Fall geurteilt, dass die Schranken, die durch den Paragrafen im StGB entstehen, das Grundgesetz nicht aushöhlen dürfen. Das Problem sei Rassismus und dieses lasse sich nicht lösen, wenn nicht darüber geredet werden dürfe.
Igor lies sich das letzte Wort nicht nehmen und meinte, er möchte erst dann wieder hier sitzen, wenn ein Richter of Color und eine Staatsanwältin of Color vor ihm sitzen.

Richter Hauzel jedoch verurteilte Igor zu 20 Tagessätzen à 15 Euro. Über die Begründung grübeln noch heute alle Beteiligten. Der Versuch einer Zusammenfassung des Gesagten: Der Ausspruch „FUCK COPS“ ist ok, weil es ein Kollektiv trifft. „AUCH POLIZIST_INNEN SIND RASSIST_INNEN“ ist nicht ok, weil eine Personalisierung darin steckt. Warum das so ist? Darüber gab es viele Deutungsangebote durch die Unterstützer*innen. Vielleicht liegt der Unterschied in der Ansprache, in welcher Männer als auch Frauen vertreten sind, oder darin, dass die Polizei an diesem Tag physisch anwesend war? Oder weil ein*e objektive*r Dritte*r (wer auch immer das sein mag), also eine Passant*in denken könnte, dass die Polizei durch den Spruch diskriminiert wird oder weil ein*e objektive*r Dritte*r denken könnte, dass die Polizei rassistisch sei… Wer noch andere Ideen hat, wir freuen uns über mehr Interpretationen!

Zwischenzeitlich war es eine recht heitere Veranstaltung, die fünf anwesenden Bewaffneten müssen lachen, der Richter lobt Igor „Sie machen sich gut!“ und zum Schluss spricht er auch die kurzen Pausen bei Polizist*innen und Rassist*innen, für die der Unterstrich oder das Sternchen stehen.
Nichtsdestotrotz bleibt die Ignoranz, Rassismus als Problem anzuerkennen. Interessant bleibt auch, dass sich weder Rau, noch Koch an das Transparent „Stoppt rassistische Polizeikontrollen!“ erinnern können. Das gefällt dem Richter nicht so gut, denn er nennt beide Aussprüche während des Prozesses im gleichen Atemzug. Zum Urteil kommt es dennoch.

Trotz alldem ziehen der Betroffene und die Unterstützer*innen nach dem Prozess als Demonstration vom Amtsgericht zum Landgericht Erfurt am Domplatz. Dort schildert B. nochmals den Hintergrund seines Verfahrens im vergangenen Oktober und ruft alle auf, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, denn das ist das Problem. Am 2. Juli finden wir uns wieder zusammen, diesmal in einem Sitzungssaal des Landgerichts zur Berufungsverhandlung von B.: Dieser Prozess ist auch unserer! Solidarität ist eine Waffe!